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Im Anstand auf die Nachtigall
#1
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Im Anstand auf die Nachtigall


In der Nacht hatte es geregnet. Ein kurzer kräftiger Mairegen, der jetzt, am Morgen, dampfend in den Straßen stand. Von der Strassenbahnhaltestelle aus, brauchte er nur die Straßenseite zu wechseln und befand sich schon am Osteingang des verwilderten Friedhofes: Olosig.

Den häufiger begangenen Hauptweg, der als Abkürzung zwischen den Stadtteilen benutzt wurde, säumte wucherndes Kraut und aus den Blattscheiden der jungen Disteln perlte ihm beim vorbeigehen blinkend die Morgensonne entgegen. Schotter hatte hier schon lange niemand geworfen. Man musste häufig die Seite wechseln um die aufgeweichten, erdigen Stellen zu meiden. Aber wo es aus den Baumwipfeln nicht mehr tropfte, hatte es schon begonnen anzuziehen.

Bei der verwitterten kleinen Kapelle, der man ansah, dass sie mal gelb gestrichen war, nahm er den Abzweig nach rechts und gleich dahinter einen schmalen Trampelpfad links durchs Gebüsch. Wie liebte er es, vor der Arbeit diese Umwege zu gehen. Man konnte glatt vergessen, dass man sich mitten in der Stadt befand. Das Geräusch der quietschenden Schienen und gelegentliches hupen drangen nur gedämpft bis hierhin.

Er wollte endlich das Gelege der Nachtigall ausfindig machen. Ein weitläufige und flach von Efeu überwucherte Stelle gegenüber einer abgeschiedenen Gruft, die von dichten Hecken umsäumt war, kam in Frage. Aber die Vögel waren nahe am Brutplatz stets sehr aufmerksam und warnten lauthals vor jedem Eindringling, dem sie gewahr wurden. Heute hatte er aber einen Plan gefasst: geduckt und zügig lief er direkt zur Gruft. Die schwere Deckplatte war wahrscheinlich von Grabräubern zur Seite gestemmt worden. Die Einkerbspuren der Hebeeisen waren schon verwittert, aber noch gut erkennbar. Der Spalt war breit genug um hinunter zu schlüpfen, ohne dass die Uniform beschädigt wurde. Auf, auf, rasch hinunter - noch war nichts zu hören!

Von wegen. Er schaffte es nicht. So schnell konnte er gar nicht hinunterschlüpfen wie das lauthalse "tack, tack, karrr" erklang: sie hatten ihn entdeckt. Mit dieser Enttäuschung landete er auf einer weichen verwitterten Blätterschicht. Anderthalb Meter - tiefer war es hier nicht. Aber ziemlich geräumig. Er kauerte sich neben die Wandung und wartete gespannt ob die Warnrufe aufhören würden.

Sie hörten nicht auf und sie riefen munter weiter im Duett. Die abgehackten Warnlaute wurden immer wieder von einem langgezogenen, gellenden Fiepen unterbrochen. Das sollte wohl Alarm auf Höchststufe bedeuten.
Kamen sie näher, oder schien es nur so? Tatsächlich - einer flog gerade über der Öffnung vorbei. Ob man ihn da unten in dem dämmrigen Loch gesehen hatte? Die Uniform war unauffällig grün, aber die Kerle haben große Augen, die in der Dämmerung verdammt gut funktionieren. Schnell sprang er auf die andere Seite, und tastete sich bis in die Ecke der Grube. Die eigenen Augen gewöhnten sich nur langsam an die dunkle Umgebung. Nein, er würde es den blöden Viechern zeigen - wär doch gelacht wenn sie nicht zu überlisten wären! Eine Weile verstecken und sie werden ihn aus dem Sinn verlieren.

Die reichen Juden aus Amerika zahlten gut für die Umbettung, hatte ihm gestern ein Gräber erzählt, der hüfttief in einem Erdloch wühlte. Er arbeite für sie. Etwa 210 Knochen habe ein erwachsener Mensch, die meisten an Armen und Handgelenken. Ob er fehlende Skelettteile einfach aus anderen Gräbern ersetzte? Hier fehlte der Schädel. Ansonsten schien aber alles komplett vorhanden zu sein. Er versuchte am Becken einzuschätzen, ob es eine Frau oder ein Mann gewesen war. Die Kleidung war ja nicht mehr zu erkennen. Ringe und sonstiger Schmuck fehlten sowieso. Bis er die langen grauen Haare entdeckte. Sie lagen wie ein Teppich mit den Kleidungsresten verwirkt unter den Knochen: mindestens 40 cm. Eine Frau, also.

Bei der Arbeit würde man ihn noch nicht vermissen. Aber bald müsste er los um das Tagessoll zu schaffen. Bei einem der Wohnblöcke hatten sie die Aussparungen für die Fahrstuhltüren zu niedrig verschalt. Jetzt fehlten in der Höhe fast zwanzig Zentimeter zum Einbau der Türzargen: zwanzig Zentimeter Stahlbeton. Und er hatte nur einige stumpfe Meissel aus weichem Baustahl und einen Hammer. Eine Tür pro Tag war auch zu zweit kaum zu schaffen. Die Leute wohnten schon dort und manche beschwerten sich über das anhaltende Geklopfe. Aber einmal hatte eine Frau etwas zum Trinken gereicht, immerhin. Ob der Kollege schon angekommen ist? Heute muss er ihn unbedingt mit den Meisseln zur Schmiede schicken; wenn die nicht zugespitzt und gehärtet würden, kämen sie überhaupt nicht voran.

Lange genug abgewartet. Ob sie sich jetzt beobachten lassen? Das Gezeter hat nachgelassen. Vorsichtig näherte er sich der Öffnung und blickte hoch:

- Nein!

Wie versteinert starrte er den Vogel an, der selber auch Sekundenbruchteile vor Schreck verharrte: die Nachtigall saß auf der Umrandung, blickte nach unten und suchte offensichtlich nach ihm. Und schon war sie auf und davon! Das Gezeter hob von neuem an. Da! nochmals kam sie und blickte herunter. Oder war das jetzt das Weibchen gewesen? Die lassen sich ja am Gefieder nicht unterscheiden. Ungläubig und ratlos schüttelte er den Kopf. Völlig unterschätzt hatte er die Viecher: sein Plan war gründlich misslungen. Er könnte ja noch aufs gradewohl ein paar Stellen absuchen...

- Was zum...

Erstaunt drehte er sich um - hinter sich hatte er ein Geräusch vernommen: etwas bewegte sich dort in der Ecke. Erst als er sich ein Stück näherte, erkannte er eine dicke Erdkröte, die langsam hervorgekrochen kam. Wahrscheinlich hatte sie Erschütterungen vernommen und war gerade dabei nachzuschauen, was es zu futtern gibt.

- Da friss!

flüsterte er ihr zu und stupste sie mit dem Zeigefinger vors Maul. Sie zuckte erschreckt zurück, schloß die Augen, duckte sich breit ins verwitterte Laub und begann langsam sich mit den Schenkeln der Hinterbeine rückwärts ins Moder einzugraben. Sie war gar nicht schlecht genährt. Angeblich können Kröten Jahrzehnte in Höhlen, Brunnen oder anderen Schächten überleben. Es fällt ihnen genug vor die Füße.

Sie hatte sich schon fast eingegraben. Er umfasste sie hinter den Vorderbeinen und trug sie vor ans Licht. Dabei verstreuten sich Erde und Blätterreste von der strampelnden Kröte, über das Skelett. Er reinigte zuerst die Kröte, blies ihr ins Gesicht und legte sie von einer Hand in die andere bis sie sauber war. Mittlerweile hielt sie still. Dann wischte er mit den Fingerkuppen die Reste von den langen Oberschenkelknochen bis sie auch wieder blank waren. Die Knochen hatte die gleiche Temperatur und fast die gleiche Farbe wie die Kröte. Nur die Oberfläche war überraschend uneben, wie verwitterter Zement. Dann richtete er sich auf und hob das Tier vorsichtig auf der offenen Handfläche bis genau auf die Höhe der Zementeinfassung und blickte sie an. Die Kröte zögerte nicht lange - sie wischte sich mit einem Vorderbein über die Augen, wandte dann trippelnd ihren Körper in Richtung Nachtigallen, schritt weit ausholend über den feuchten Zement, purzelte in den Efeu und war verschwunden.

Er zwängte sich durch die Öffnung, stemmte sich hoch und ordnete seine Kleidung. Ohne die Nachtigallen auch nur eines Blickes zu würdigen, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, schlenderte er ins Gebüsch.

Unter einem schiefen grauen Grabstein, der das ganze Regenwasser ableitete, befand sich pulvriger Sand. Ameisenlöwen hatten darin ihre Trichter gebaut. Er setzte sich daneben und suchte die Vegetation mit Blicken ab. Gezielt griff er in eine jungen Staude und pflückte eine mittelgroße Ameise vom Stengel. Vorsichtig hielt er ihren kugligen chitinösen Leib zwischen seinen Fingerkuppen, streckte die Hand unter den Stein, und ließ sie mitten zwischen die Trichterlandschaft fallen.

- Wenn sie entkommt bleib ich noch ein bisschen.

Sie entkam nicht. Ausgerechnet in einem der äußersten Trichtern, war sie hinuntergerutscht und sofort in der Mitte gepackt worden. Mit ruckartigen Bewegungen verschwand sie im Sand.

In Gedanken versunken, schlenzte er quer durchs Dickicht auf den tieferliegenden, dichtbewachsenen Westrand des Friedhofes zu. Das ganz Linke, der sich eng reihenden, trostlosen Hochhäuserkette, war sein Ziel. Anstatt Zaun, wucherten die Hecken hier besonders üppig und ragten mit ausladenden Blütenständen, noch meterweit über die trostlose Betonplatte, die den Hinterhof der Hochhäuser bildete.

Vor dem letzten Gebüsch, hielt er kurz inne, sah sich nochmals um, zog dann die Arme vors Gesicht, beschleunigte durch die nassen Zweige und ließ sich mit einer rythmisch schallenden, federnden Schrittfolge die kleine Anhöhe hinunterfallen.

Und bei jedem dieser bremsenden Schritte, war ihm, als würde er nicht hinab-, sondern auftauchen aus einer lebendigen, uferlosen Tiefe.

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