1806 – 1882
Mai Lenztrieb
Nun sprengt der Mai des
Wintergrabes Siegel
Und alle Wandervögel ziehen
ein,
Und du, mein herz, sollst noch
gefangen sein
In dumpfen Mauern hinter
Schloß und Riegel?
O hauche mir der Seele trüben
Spiegel
Vom Stubendunst, du frischer
Lenzhauch, rein,
Daß ich mich bade jung im
Sonnenschein
Und hebe frei zum Schwung die
matten Flügel!
Ein neues Leben laß auch mich
durchwallen,
Laß Lenzestrieb durch alle
Adern zieh’n
Und mit des Himmels freien
Sängern allen
Laß mich in’s unermeßne Blaue
flieh’n!
Hinauf durch zarte weiße
Wolkenherden
Zu ew’gem Frühling und zu
neuen Erden!
Juni Ave Maria
Die Sonne sank, es dunkeln
schon die Auen,
Im Westen glüht der Abendröthe
Gold –
Wie klingt der Lerche letztes
Lied so hold,
Ein heilig Engelgrüßen hoch im
Blauen.
Und innig zieht es mich
hinaufzuschauen:
Weit liegt der Himmel vor mir
aufgerollt –
Zu lange schon, mein Herz,
hast du gegrollt,
Laß deinen Schmerz in Thränen
niederthauen.
Laß ihn der Erde, lern’ dein
Leid vergessen,
Den Blick nur zu der höchsten
Liebe lenken,
In ihren Tiefen, ewig
unermessen,
Dein Leid, das Weh der ganzen
Welt versenken.
Erhebe mit der Lerche dich vom
Staube,
Dein Abendlied sei: „Liebe,
Hoffnung, Glaube!“
Ein Engel fragt mich: „Willst
du mit mir geh’n?“
Wie blendet mich sein
leuchtend Liljenkleid!
„Verlaß der Erde nichtig Lust
und Leid,
Des Himmels Sterne sollst du
näher seh’n!“
Da blick ich aufwärts zu den
steilen Höh’n,
Den Sternen nahe, doch so
himmelweit
Von allen Blumen holder
Zeitlichkeit,
Von meinem trauten Thal, so
heimlich schön!
Mein sterblich Auge füllen
heiße Thränen,
Ein heilig Wollen und ein
irdisch Wähnen,
Trennt Leib und Seele mit des
Cherub’s Schwert,
Der meines Eden Rosenthor mir
wehrt!
Ach! mußtest du mich mit mir
selbst entzweien
Und deine Schwingen darfst du
mir nicht leihen!
September In Sturm und Noth
Kleingläubiger! So wird der
Herr dir sagen,
Der schlafend noch in deinem
Schifflein ruht,
Ist das der hohe,
vielverheißne Muth,
Der dich schon jetzt zum Tode
läßt verzagen?
Ach, wolltest du mit Ihm nicht
Alles wagen,
Gelobest du nicht Ihm einst
Gut und Blut?
Das ist noch lange keines
Sturmes Wuth,
Von der du wähnst, sie sei
nicht zu ertragen.
Gieb dich nur ganz dem Herrn
von Herzen hin!
Du kannst nicht? Eigenlieb’
und Eigenwille,
Sie walten blind im
furchtbethörten Sinn;
Der Glaube schwand dir, armer
Erdenwurm?
So weck’ Ihn denn, und sieh,
Er dräut dem Sturm,
Und Wind und Wogen weh’n und
wallen stille!
November Der wachsende Mond
So oft ich dein zunehmend
Licht geschaut,
Hat neue Kraft aus dir mein
Blick gesogen;
Mit süßem Trost erfüllt dein
Silberbogen
Des Wandrers Herz, dem Nachts
im Walde graut.
Still wandelst du, wie eine
Himmelsbraut
Mit ihren Sternenjungfrau’n
kommt gezogen,
Und zitternd strahlt dein Bild
auf Meereswogen,
Wie in der Thräne, die vom
Auge thaut.
O leuchte fort! Und mußt du
untergehen,
Ich weiß, du kehrst doch
wieder, sicherlich,
Dein milder Schein, er tröstet
ferner mich!
So laß dein hold Geheimniß
mich verstehen,
Und wenn dein Strahl durch
dunkle Wolken bricht,
Frohlocke laut mein Herz
„zunehmend Licht!“
Wie weise Lehren wohl ein
guter Vater,
Am Sonntag oder hohen
Feiertagen,
Dem Sohne pflegt erbaulich
vorzutragen,
Nur Lieb’ und Gutes, alles
Andre spater!
So ist mein Recensent heut wie
ein Kater,
Der blinzelnd spinnt vor
lauter Wohlbehagen;
Wie sänftlich weiß er alles
fein zu sagen,
Seit lange nicht so
liebenswürdig that er!
Gelegentlich nur darf ein
Wörtchen fallen,
Er könnte wohl, wenn anders er
nur wollte,
Auf daß ich merke doch die
scharfen Krallen,
Wenn ich es etwa sonst vergessen
sollte,
Und doppelt fühle, wie er, mir
gewogen,
„Sammtpfötchen“ macht, die
Haken eingezogen!
Dezember Die neue Welt
Der sonst so fest das Steuer
hielt, Gedanke
Voll Ewigkeit, voll Kraft
hindurch zu dringen,
Aufstrebend sonst mit stolzen Adlerschwingen,
Giebst du das Schifflein jetzo
Preis, das schwanke?
Noch einmal stärke Hand und
Herz, das kranke,
Daß Wind und Wellen jetzt uns
nicht verschlingen,
Noch einmal gilts bis auf den
Tod zu ringen,
Zerkracht das Schiff, so
rettet uns die Planke!
Nur jetzt noch richte fest den
Kiel nach Westen,
Schon mehren sich der sichern
Hoffnung Zeichen,
Es trägt die Strömung uns zum
Land, dem festen.
Vom Morgenstrahle wunderbar
erhellt,
Ein Streifen steigt aus Nebeln
auf, aus bleichen –
„Gott sei gelobt! Das ist die
neue Welt!“