Julius Hübner                         1857

1806 – 1882

 

Mai                                                        Lenztrieb

 

Nun sprengt der Mai des Wintergrabes Siegel

Und alle Wandervögel ziehen ein,

Und du, mein herz, sollst noch gefangen sein

In dumpfen Mauern hinter Schloß und Riegel?

 

O hauche mir der Seele trüben Spiegel

Vom Stubendunst, du frischer Lenzhauch, rein,

Daß ich mich bade jung im Sonnenschein

Und hebe frei zum Schwung die matten Flügel!

 

Ein neues Leben laß auch mich durchwallen,

Laß Lenzestrieb durch alle Adern zieh’n

Und mit des Himmels freien Sängern allen

 

Laß mich in’s unermeßne Blaue flieh’n!

Hinauf durch zarte weiße Wolkenherden

Zu ew’gem Frühling und zu neuen Erden!

 

 

 

Juni                                                        Ave Maria

 

Die Sonne sank, es dunkeln schon die Auen,

Im Westen glüht der Abendröthe Gold –

Wie klingt der Lerche letztes Lied so hold,

Ein heilig Engelgrüßen hoch im Blauen.

 

Und innig zieht es mich hinaufzuschauen:

Weit liegt der Himmel vor mir aufgerollt –

Zu lange schon, mein Herz, hast du gegrollt,

Laß deinen Schmerz in Thränen niederthauen.

 

Laß ihn der Erde, lern’ dein Leid vergessen,

Den Blick nur zu der höchsten Liebe lenken,

In ihren Tiefen, ewig unermessen,

 

Dein Leid, das Weh der ganzen Welt versenken.

Erhebe mit der Lerche dich vom Staube,

Dein Abendlied sei: „Liebe, Hoffnung, Glaube!“

 

 

 

Verlornes Paradies

 

Ein Engel fragt mich: „Willst du mit mir geh’n?“

Wie blendet mich sein leuchtend Liljenkleid!

„Verlaß der Erde nichtig Lust und Leid,

Des Himmels Sterne sollst du näher seh’n!“

 

Da blick ich aufwärts zu den steilen Höh’n,

Den Sternen nahe, doch so himmelweit

Von allen Blumen holder Zeitlichkeit,

Von meinem trauten Thal, so heimlich schön!

 

Mein sterblich Auge füllen heiße Thränen,

Ein heilig Wollen und ein irdisch Wähnen,

Trennt Leib und Seele mit des Cherub’s Schwert,

 

Der meines Eden Rosenthor mir wehrt!

Ach! mußtest du mich mit mir selbst entzweien

Und deine Schwingen darfst du mir nicht leihen!

 

 

 

September                                              In Sturm und Noth

 

Kleingläubiger! So wird der Herr dir sagen,

Der schlafend noch in deinem Schifflein ruht,

Ist das der hohe, vielverheißne Muth,

Der dich schon jetzt zum Tode läßt verzagen?

 

Ach, wolltest du mit Ihm nicht Alles wagen,

Gelobest du nicht Ihm einst Gut und Blut?

Das ist noch lange keines Sturmes Wuth,

Von der du wähnst, sie sei nicht zu ertragen.

 

Gieb dich nur ganz dem Herrn von Herzen hin!

Du kannst nicht? Eigenlieb’ und Eigenwille,

Sie walten blind im furchtbethörten Sinn;

 

Der Glaube schwand dir, armer Erdenwurm?

So weck’ Ihn denn, und sieh, Er dräut dem Sturm,

Und Wind und Wogen weh’n und wallen stille!

 

 

 

November                                              Der wachsende Mond

 

So oft ich dein zunehmend Licht geschaut,

Hat neue Kraft aus dir mein Blick gesogen;

Mit süßem Trost erfüllt dein Silberbogen

Des Wandrers Herz, dem Nachts im Walde graut.

 

Still wandelst du, wie eine Himmelsbraut

Mit ihren Sternenjungfrau’n kommt gezogen,

Und zitternd strahlt dein Bild auf Meereswogen,

Wie in der Thräne, die vom Auge thaut.

 

O leuchte fort! Und mußt du untergehen,

Ich weiß, du kehrst doch wieder, sicherlich,

Dein milder Schein, er tröstet ferner mich!

 

So laß dein hold Geheimniß mich verstehen,

Und wenn dein Strahl durch dunkle Wolken bricht,

Frohlocke laut mein Herz „zunehmend Licht!“

 

 

 

Der wohlgelaunte Recensent

 

Wie weise Lehren wohl ein guter Vater,

Am Sonntag oder hohen Feiertagen,

Dem Sohne pflegt erbaulich vorzutragen,

Nur Lieb’ und Gutes, alles Andre spater!

 

So ist mein Recensent heut wie ein Kater,

Der blinzelnd spinnt vor lauter Wohlbehagen;

Wie sänftlich weiß er alles fein zu sagen,

Seit lange nicht so liebenswürdig that er!

 

Gelegentlich nur darf ein Wörtchen fallen,

Er könnte wohl, wenn anders er nur wollte,

Auf daß ich merke doch die scharfen Krallen,

 

Wenn ich es etwa sonst vergessen sollte,

Und doppelt fühle, wie er, mir gewogen,

„Sammtpfötchen“ macht, die Haken eingezogen!

 

 

 

Dezember                                              Die neue Welt

 

Der sonst so fest das Steuer hielt, Gedanke

Voll Ewigkeit, voll Kraft hindurch zu dringen,

Aufstrebend sonst mit stolzen Adlerschwingen,

Giebst du das Schifflein jetzo Preis, das schwanke?

 

Noch einmal stärke Hand und Herz, das kranke,

Daß Wind und Wellen jetzt uns nicht verschlingen,

Noch einmal gilts bis auf den Tod zu ringen,

Zerkracht das Schiff, so rettet uns die Planke!

 

Nur jetzt noch richte fest den Kiel nach Westen,

Schon mehren sich der sichern Hoffnung Zeichen,

Es trägt die Strömung uns zum Land, dem festen.

 

Vom Morgenstrahle wunderbar erhellt,

Ein Streifen steigt aus Nebeln auf, aus bleichen –

„Gott sei gelobt! Das ist die neue Welt!“