Hans Kaltneker                         Der Mord

1895 – 1919

Ein Bahndamm. Telegraphendrähte schwirren.

Lokomotivenpfiff. Gewölk. Grau. Drohend.

Fabriken. Rauchend. Hammerlaut. Zornlohend.

Rostrote Schwaden, die um Schlote irren.

 

Breit wuchtet vor dem Horizont die Stadt.

Qualgelbe Quadern. Mauern. Türme. Gassen

mit geilen Hunden, Menschen, die sie hassen

und nehmen und verprassen. Einer hat

 

ein Messer in der Hosentasche. Lauert

am Damm im Dunklen. Sprungbereit. Das Knie

am Boden festgestemmt. Heiß von der Not

 

des Blutes. Wartet. Fern die Melodie

des Hammers, der auf Eisen niederschauert.

Schritte - - Ein Sprung. Ein Stoß! – Ein Schrei!! – Ein Tod.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hans Kaltneker                         Grabschrift

1895 – 1919

Wenn auch mein Herz oft eitler Dinge pflag,

unedel sich an Irdischstem verbrauchte,

wenn ich in Sünde selbst und Trübnis tauchte,

gewärmt an Aussatz bei den Hunden lag,

 

wenn dann von deines Odems Feuerschlag

entbrannt ein Dornbusch ich gen Gott entrauchte –

dir war ich ganz zu eigen, Hocherlauchte,

du meine Sterbenacht, mein jüngster Tag!

 

Dem letzen Blick warst du der Sternenfunken,

der aus den finstren Himmeln in mich fiel.

Nun bin ich längst in alles All entsunken,

 

die Winde heißen mich ihr liebstes Spiel,

mich haben alle Wiesen aufgetrunken

und allen Strömen bin ich Meer und Ziel.

 

 

 

 

 

 

Hans Kaltneker                         Versuchung

1895 – 1919

Du reine Frau aus Licht und Elfenbein,

 du helle Schwester mir am trüben Bette,

 du meines Blutes letzte Zufluchtsstätte,

 du Seelenberge, tief und kühl und rein,

 

 wie wenn dein Schoß mich einst geboren hätte,

 kehrt stets mein Herz in deiner Liebe ein!

 Dich, süße Heil'ge, kann kein Wunsch entweihn,

 doch mich, dein Kind, aus wehem Feuer rette!

 

 Ich höre nachts die wilden Reiter jagen,

 heiß keucht ihr Atem mir ins Angesicht -

 nein, hilf mir nicht! Laß mich auch dies ertragen

 

 um dich, die mich erhebt, wenn sie mich bricht.

 Ich kenn' das Wort, dem alle Nächte tagen:

 "Ich will! Ich liebe dich!" - Sieh, es ward Licht!

 

 

 

Hans Kaltneker                         Sonett für Wien

1895 – 1919

Du Stadt, du Psalm, aus Gottes Mund erklungen
und Stein geworden, Marmor, Park und Garten,
Gedicht und Lied der liebsten Engelzungen,
die lange deiner gold'nen Kirchen harrten,
 
drin alle Heil'gen, wunderlich bezwungen
von ihrer hohen Form, zu Glanz erstarrten!
Stadt der Fontänen, altem Stein entsprungen,
barocker Bauten, gnädiger Standarten,
 
die über hohen Prozessionen schweben!
Die Stadt, darin der Klang vergang'ner Zeiten 
noch klingt,  darin das alte Gold noch leuchtet,
 
darin die dunkeln, frommen Bilder leben
und Gottes Auge aus den grünen Weiten 
der Berge strahlt, von Wehmut sanft befeuchtet.