Conrad Ferdinand Meyer      Die Krypte

1825 – 1898

Baut, junge Meister, bauet hell und weit

Der Macht, dem Mut, der Tat, der Gunst der Stunde,

Der Dinge wahr und tief geschöpfter Kunde,

Dem ganzen Genienkreis der neuen Zeit!

 

Des Lebens unerschöpften Kräften weiht

Die freud’ge, lichtdurchflutete Rotunde –

Baut auch die Krypte drunter, wo das wunde

Gemüt sich flüchten darf in Einsamkeit:

 

Vergeßt die Krypte nicht! Dort soll sich neigen

Das heil’ge Haupt, das Dornen scharf umwinden!

Ich glaube: Ein’ge werden niedersteigen.

 

Dort unten werden ein’ge Trost empfinden.

Wir mögen, wenn die Leiden uns umnachten,

Nicht Glück noch Ruhm, nur größern Schmerz betrachten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Conrad Ferdinand Meyer      Gespenster

1825 – 1898

Am Horizonte glomm des Abends Feuer;

Ich stieg, indes die Purpurglut verblich,

Zum Römerturm empor und lehnte mich

Randüber auf das dunkelnde Gemäuer –

 

Und sah, wie sich am Hange scheu und scheuer

Die Beerenleserin vorüberschlich.

Das arme Weibchen drückt’ und duckte sich

Und schlug ein Kreuz: ihr war es nicht geheuer ...

 

Mich flog ein Lächeln an. Im Eppich neben

Der Brüstung flüstert’s: „Freund, in deinem Leben

Ist auch ein Ort, wo die Gespenster schweben!

 

Führt dich Erinnrung dem zerstörten Ort

Vorbei, du huschest noch geschwinder fort

Als das von Graun gepackte Weibchen dort.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Conrad Ferdinand Meyer      Nicola Pesce

1825 – 1898

Ein halbes Jährchen hab ich nun geschwommen

Und noch behagt mir dieses kühle Gleiten,

Der Arme lässig Auseinanderbreiten –

Die Fastenspeise mag der Seele frommen!

 

Halb schlummernd lieg ich stundenlang, umglommen

Von Wetterleuchten, bis auf allen Seiten

Sich Wogen türmen. Männlich gilt’s zu streiten.

Ich freue mich. Stets bin ich durchgekommen.

 

Was machte mich zum Fisch? Ein Mißverständnis

Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntnis.

Mein Wanderdrang und meine Farbenlust.

 

Die Furcht verlernt’ ich über Todestiefen,

Fast bis zum Frieren kühlt’ ich mir die Brust –

Ich bleib ein Fisch und meine Haare triefen!

 

 

 

 

 

Conrad Ferdinand Meyer      Die Kartäuser

1825 – 1898

Ich sehe sie auf Sacchis süßem Bilde

Beschreiten ihrer toten Brüder Grüfte,

Gegürtet mit dem Knotenstrick die Hüfte,

In weißen Kleidern, festlich, göttlich milde –

 

Manch einer schleppte sich mit Schwert und Schilde,

Gepanzert saust’ zu Roß er durch die Lüfte,

Bevor er suchte die verlornen Klüfte

Und weltentsagend trat in diese Gilde.

 

Sie alle wollen hier in öder Wildnis,

Vergessen ein verführerisches Bildnis,

Sie alle wollen hier ein Stündlein büßen,

 

Um mit den Reinen sich zu begrüßen,

Sie alle wollen hier ein Stündlein beten,

Bevor sie vor den strengen Richter treten.