Ferdinand von Saar               Klarheit

1833 – 1906

Oft ist es mir, als säh ich niedergleiten

Die Schleier still und leise von den Dingen,

Mein Auge kann das weite All durchdringen

Und blickt zurück zum Urquell aller Zeiten.

 

Ich sehe, wie die Fäden sich bereiten,

Wie sie sich knüpfen, kreuzen und verschlingen –

Und so die Tage immer näher bringen,

Die zu den unsren ernst herüberleiten.

 

Dann fühl ich mit dem Fernsten mich verwoben

Und in mir leben jedes Einzelleben,

Das hier geatmet und geblickt nach oben.

 

Mein eignes Ich, mit tiefgeheimem Beben,

Seh ich zur Welt erweitert und erhoben –

Und mit ihr, wie ein Traum, in Nichts verschweben.

 

 

 

Ferdinand von Saar               Sonette

1833 – 1906

Ein Labyrinth mit hold verschlungnen Gängen

Hat den Gedanken traumhaft sich erschlossen:

Er tritt hinein – und wird sogleich umflossen

Von Glanz und Duft und zauberischen KIängen.

 

Hier locken Blumen, die auf Wiesenhängen

Des Pflückers harren, leuchtend aufgeschossen;

Dort wollen Zweige, goldschwer übergossen,

Fast in den Pfad dem Wandelnden sich drängen.

 

Der aber, wird so mancher Wunsch ihm rege,

Pflückt eine Frucht nur mit zufriedner Miene,

Doch manche Blüte, die er trifft am Wege.

 

Und nun – ob er gefangen auch erschiene

Schon in des Vierreims duftigem Gehege -:

Geleitet ihn ins Freie die Terzine.

 

 

 

 

 

Ferdinand von Saar               Sonntag

1833 – 1906

Wie lieb ich es, an Sonntagnachmittagen

Allein zu sitzen im vertrauten Zimmer;

Durchs Fenster bricht der Sonne heller Schimmer,

Das Buch vergoldend, das ich aufgeschlagen.

 

Die Straßen leer. Es rollen keine Wagen,

Des Marktes Lärm verstummt, als wär’s auf immer,

Und all des Sonntagsstaates bunter Flimmer,

Er ward hinaus in Wald und Flur getragen.

 

Verlassen fühlt sich, wer zurückgeblieben,

Und manches schöne Auge blickt verdrossen,

Und manche Wünsche unerfüllt zerstieben.

 

Es ruht das Leben wie in sich zerflossen;

Doch still erfüllt sich auch geheimes Lieben,

Und einsam wird des Geistes Glück genossen.