Josef Weinheber                           Brief an H. Pongs

1892 – 1945                                                                                                                                                     8.2.1939

 

... Ich kam zu Rilke über den Wiener Lyriker Anton Wildgans, dessen „Sonette an Ead“ für mich eine Art dichterischer Gehschule wurden, sodaß ich, es war dies 1913, Sonette niederschrieb, die von denen des Vorbilds kaum zu unterscheiden waren. Die Wiener Kritik sprach damals, wenn auch respektvoll verhüllt, immer wieder davon, daß Wildgans sich in Tonfall und Aura stark an Rilke anlehne. Dies veranlaßte mich zu dem Wunsch, den Meister des Meisters kennen zu lernen ...

 

...Wenn umgekehrt Toller, überdies in sprachlich durchaus nicht einwandfreien „Gedichten der Gefangenen“, die Leiden seiner Festungshaft besingt, wird kein Mensch sich dem erschütternden Eindruck, dem Mitleiden mit der gequälten, Schmach und Unrecht duldenden Kreatur verschließen können. Aber wo deckt sich dieses stoffliche Übermaß an Empörung, Aufschrei, Vernichtung, Geduld und parteilicher Programmatik mit der Form des Sonetts, deren die Gesänge sich bedienen? Wo ist hier auch nur der Ansatz zu einer  dichterischen  Gestaltung? Oder sollte das Sonett als solches neuerlich eine proletarische Form geworden sein? – Wobei sicherlich nichts gegen das Sonett im allgemeinen gesagt werden soll, für dessen künstlerische Tragfähigkeit George (im eigenen Werk sowie in den Übersetzungen) und Rilke (Sonette an Orpheus) in jüngster Zeit den erhabenen Beweis erbracht haben.

 

 

... Es ist ein Sonettenkranz; diese dicht verflochtene Form zyklischer Sonette, hat, meines Wissens nach, in deutscher Sprache kein ernst zu nehmendes Vorbild. Sie stammt aus romanischem Sprachbereich und ist in deutschen Poetikbüchern zumeist nur als eine eines wahren Dichters unwürdige Spielerei tadelnd erwähnt. Ich hebe diese Tatsache besonders hervor, weil ich überzeugt bin, daß diese Zyklenform dem wirklichen Gestalter nicht nur die gleichen künstlerischen Möglichkeiten einräumt wie andere normgewordene Formen und jedenfalls größere als der deutsche Vierzeiler, sondern daß sie darüber hinaus, eben wegen ihrer starren Geschlossenheit und schwierigen Technik die strengste Führung der Thematik und eine großartige, feierliche Auflösung derselben ermöglicht. Diesem Vorteil, der natürlich insbesondere einem großen Thema, einer heroischen Haltung entgegenkommt, steht wohl die Gefahr gegenüber, nicht des Spielerischen, aber des Eintönigen; dort aber, wo ein monomanischer Mensch sich monoman mit der Welt auseinandersetzt, wird sie eben deshalb als die zwingende, für eine künstlerische Deckung des Stofflichen einzig mögliche Form erscheinen. Der Sonettenkranz besteht aus 15 Sonetten, von denen jede Schlußzeile die Anfangszeile des folgenden bildet. Das fünfzehnte, das sogenannte Meistersonett, besteht aus den Anfangszeilen der vierzehn vorhergehenden Sonette.

 

 

... Ich war auf meinen Italienreisen, und später in Paris, mit den Hauptwerken des Michelangelo bekannt geworden. Und da war es nun plötzlich nicht die Malerei, da stand auf einmal die ungeheure, dämonische, plastische Kraft dieses Gottes, die mich wie ein Ruf von oben in ihren Bann schlug. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: nun wußte ich, nun erlitt ich die erkenntnis, was bilden, was gestalten heißt. Der niederschlag des überwältigenden Erlebnisses ward sofort in den Gedichten sichtbar. Das Bemühen, jenen großen Verkörperungen einer flammenden Idee nahezukommen, ließ mich die ferne Bruderschaft Hölderlins vergessen, ja verwerfen. Ich lernte Michelangelos Sonette kennen. Zur Tollkühnheit entzündet an solchem Wesen, wollte ich im  Wort,  im Sonett die steinerne Tat des Gottes – als Mensch versuchen. Und so wie früher aus der Begegnung mit Hölderlin die „Variationen auf eine hölderlinische Ode“ erwuchsen, entstanden nun, aus einer tiefen, fast manischen Verehrung heraus, die Michelangelo-Sonettenkränze als Variationen auf Sonette des angebeteten Meisters...

 

   Dort, wo der Romane etwa mit dem Sonett auskommt, in einer Sprache, die immer auf   ihr   Eigentümliches vereidigt bleibt, beansprucht der deutsche Sprachgeist   alle gegebenen abendländischen Einkörperungen, um in einer unendlichen Vielfalt die Möglichkeiten und Potenzen   jeder   Sprache in der deutschen zu beweisen. Nicht seinem   rationalen Sinn,   sondern seiner   künstlerischen Gestalt   nach ist das deutsche Gedicht ein schöpferischer Ausdruck, allgemein über die Erde zu verstehen, wie anders die sonstigen;   nicht in die Klausur der Sprache verhafteten   Manifestationen von Kunst...

... Das Sonett hinwieder kommt wie keine andere stehende Form der Feststellung weltanschaulicher Fakten, der geistigen Auseinandersetzung – und dies insbesondere im übernommenen deutschen Sonett – sichtbar entgegen. Im Sonett läßt sich sowohl das Musikalische des Italieners als auch das denkerisch Mathematische des Deutschen sinnbildlich machen. Die Weisheit des Sonetts ergibt sich aus der Gegenüberstellung zweier, nach Körper und Klang grundverschiedener Wesensteile, der achtzeiligen Stanze und der sechszeiligen Terzine. Da findet menschliches Denken und Planen, auf Satz und Gegensatz aus, und auf Behauptung und Beweis gestellt seine Not-Wende, sein Ruhebett. Und mit der letzten Zeile, die Streit und Widerstreit versöhnt, erlöst sich im Sonett der kämpferische Geist. Nun haben sich die Dinge nach oben erhoben, und dort, in jener freieren Luft, haben sie   ein   Gesicht.

   Es möge mir, da ich den Sonettenkranz in unserer Zeit in die deutsche Lyrik wiedereingeführt habe, erlaubt sein, einiges zu dieser komplizierten Form zu sagen. Der Ausdruck Sonettenkranz wird häufig auf eine willkürliche Folge von Sonetten angewendet, die untereinander möglicherweise im Thematischen, jedoch formal in keiner Weise zusammengebunden sind. Ein derartiger „Kranz“ kann bestenfalls als Sonettenreihe oder –folge bezeichnet werden. Der   echte   Sonettenkranz ist eine, gleichsam aus der Mathematik überkommene Hervorbringung, die Erhebung des Sonetts zur höheren Potenz, ein Sonett zum Quadrat.

   Wie sich das Sonett aus vierzehn Zeilen bildet, so bildet sich der Sonettenkranz aus vierzehn Sonetten. Ein fünfzehntes, sogenanntes Meistersonett, beschließt die Reihe. Die letzte Zeile eines jeden Sonetts ist gleichzeitig die erste des nächstfolgenden, das vierzehnte endet mit der Anfangszeile des ersten, das Meistersonett ergibt sich aus den vierzehn Anfangs- beziehungsweise Endzeilen der vorhergegangenen Sonette.

   Aus der Wiederholung des Reims (Im Stanzenteil viermal und noch einmal viermal, im Terzinenteil mindestens dreimal zweipaarig), ergibt sich beispielsweise im Stanzenteil der Zwang, bis zu vierundzwanzig Malen den gleichen Reim verwenden zu müssen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß die Anfangs- beziehungsweise Endzeilen nicht einfach wiederholt, sondern womöglich im Satzsinn gegeneinander ausgespielt oder doch wenigstens syntaktisch umgedreht werden sollen. Das Meistersonett faßt, ich möchte sagen kontrapunktisch, Stimmung und Wesen des ganzen Gedichtes noch einmal zusammen, um solcher Art einen Abgesang, einen Nachklang des Sinns, und in der Wiederholung der Zeilen eine Art rhapsodisch beschwörender Magie zu vermitteln. Die Motivik im ganzen Gebild soll, endlich der inneren Dynamik des Sonetts selbst, Satz und Gegensatz enthalten, die Steigerung womöglich bis in das zweite Drittel des Kranzes reichen, im dritten Drittel gesenkt und erst gegen den Schluß hin wider hochgerissen erden. Im Terzinenteil des vierzehnten, des eigentlichen Schlußsonettes, ist eine feierlich lapidare Höhe zu erstreben, gegen welche dann wieder der ruhige Fluß des Meistersonettes als die magische Wiederaufnahme aller Motive zu kontrastieren hat.

   Es kann keinem Zweifel unterliegen, das angesichts solcher Anforderungen allein schon im Technischen, ein derartiges Gebild nur allzu in die Nähe des Spielerischen gerät, ja ins Akrobatische abgleitet und der gelungene Beweis des Könnens das dichterische Element erschlägt. Eben deshalb ist hier aber mehr als „Können“ nötig. Nur eine starke schöpferische Leidenschaft wird die gewaltige Fesselung durchhalten. Je stärker diese Kraft untergründig fühlbar bleibt, um so glaubwürdiger wird dem Nachgenießenden das Gebild erscheinen. Um diese Form auch im Geistigen zu rechtfertigen, ist wohl eine zu großen Einordnungen befähigte Klarheit des Denkens vom Dichter erforderlich. Mit Beiläufigkeiten ist hier nichts getan, und da hier der Beweis einer äußersten Bändigung erbracht werden soll, wird man sich dort, wo nichts zu bändigen ist, wohl hüten müssen, Sonettenkränze zu schreiben.

   Nirgends würde der Mangel an Dämonie und dichterischem Furor rascher und deutlicher offenbar werden als in jener Form. Sie ist gewissermaßen auf der äußersten Rechten aufgestellt, als Zeichen und Unterpfand eines eifernden Ordnungswillens, als Sinnbild der Unumstößlichkeit der Gesetze. Sie ist das Kehrgesicht zu jener äußersten Linken, zum lallend Chaotischen des genial Bedrängten, der auf des Messers Schneide geht und jeden Augenblick in das Sinnlose, Formlose, Gottlose abzustürzen in Gefahr ist.

 

   Das Sonett ist von den größten Meistern des Wortes verwendet worden. Es kommt sehr früh, etwa um 1240, in die italienische Kunstdichtung. Am Hofe Friedrichs des Zweiten, des großen Hohenstaufen (1194 – 1250), wo zunächst vermutlich die ersten Kunstlieder noch in der Volkssprache, im „volgare“, gedichtet wurden, werden die Dichter als hohe Würdenträger verehrt und die Dichtkunst eifrig gepflegt. Nach Kaiser Friedrich, dem König von Sizilien, bezeichnete man schon zu Zeiten Dantes diese frühesten Dichter Italiens als die „Sizilianer“. Eine etwas abgeänderte Stanzenart (ab, ab, ab, ab) bezeichnet sich ebendanach „Siziliane“ Jacopo da Lentini, einer der hervorragendsten Vertreter dieser Sizilianer, dürfte als erster die Form des Sonetts gebildet haben. Jedenfalls finden wir es als eigene metrische Gattung bei ihm zuerst vor. Er war Notar am Hofe Friedrichs des Zweiten, der selbst dichtete und dessen Erlasse sich als Beispiele einer wahrhaft imperialen Prosa darbieten. Es läßt sich also für die Entstehung des Sonetts sehr wohl ein reichischer Anspruch ableiten. Von da an verschwindet diese Form nicht mehr aus der italienischen Dichtkunst, ja sie beherrscht alsbald die ganze Kunstübung derr Italiener. Alle großen Meister der Sprache pflegen sie. Dante (1215-1321) und Petrarca (1304-1374) geben dem Sonett als Lieblingsgedicht klassisches Gepräge. Michelangelo macht es zur wuchtigen Plastik, Shakespeare gibt ihm den großen dramatischen Akzent, und wir Deutschen machen eine Angelegenheit des Denkens daraus. Hier wird aus Melos Dialektik und Philosophie. Und in der Tat kommt im Deutschen keine andere Form der Feststellung weltanschaulicher Fakten, der geistigen Auseinandersetzung deutlicher entgegen. Ihre Weisheit ergibt sich aus einer Spannung, aus der Gegenüberstellung jener zwei nach Körper und Klang grundverschiedenen Wesenteile, eben der achtzeiligen Stanze und der sechszeiligen Terzine. Da findet menschliches Denken und Planen, auf Satz und Gegensatz aus und auf Behauptung und Beweis gestellt, seine Notwende, sein Ruhebett. Und mit der letzten Zeile, mit dieser im deutschen Sonett so schwerwiegenden letzten Zeile erlöst sich der kämpferische Geist.

   Es ist oft behauptet worden, die Form des Sonetts entspräche nicht dem deutschen Wesen. Es eigne ihr zuviel Glätte und Manier. Der Vorwurf hat einen Schein von Berechtigung für sich, denn sie ist lateinisch hell und steht ganz im Zeichen mediterraner Formverehrung. Der Deutsche aber liebt das Dunkle, Wolkenhafte. Als nordischer Mensch versteht er sich auf den NJebel besser als auf die Sonne. Der eigentliche Grund, warum im Deutschen das Sonett so häufig abfällt, scheint mir darin zu liegen, daß wir Deutsche eine Vorliebe für die zyklische Reihe haben. Wenn nun das deutsche Sonett, das schon an und für sich weniger durch Melos als durch metrische Präzision ausgezeichnet ist, gleich neunundzwanzig weitere Sonette nach sich zieht, damit der Zyklus sich runde, so kann es schon wohl zum Schlaftrunk werden, und etwas Leierhaftes und Ödes eignet ja auch wirklich den meisten Sonettzyklen, und das in dem Maß mehr, je korrekter die Sonette gebaut sind. Das Gefühl hiefür hat wohl unsere moderne Dichter bestimmt, den überlieferten Jambenraster und die strenge Reimanordnung aufzugeben, die Starrheit des Verses durch Enjambement aufzulockern und so das ganze Gebild unruhig zu machen und ihm neues Blut und neuen Ton zuzuführen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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