ZaunköniG                            Nebelnester

* 1972                                                   9. Sonettenkranz

 

 

Treu ist die Trauer und ohne Verlangen,

als wollte sie mich in ein Nebelnest betten.

Wer sonst kann mir heute die Sorgenstirn glätten?

Nur meine eigene Hand streicht die Wangen.

 

Erinnerung brennt mir noch auf meiner Lippe,

doch sahst du mich nie in der Not, wenn ich weinte.

Es wäscht sich schon fort, was uns gestern noch einte.

Ich fühl wie im Schlaf die verlorene Rippe.

 

Ein Teil von mir ist mir dir von mir gegangen.

Ich seh, wie wir beide zu Masken erstarren,

kein Anlaß noch Grund dieses Spiel anzufangen.

 

Mein Wunsch muß auch weiter der Fleischwerdung harren,

doch treu ist die Trauer und ohne Verlangen.

Nur sie kennt mich gut, hält mich niemals zum Narren.

 

 

 

I.

 

Nur sie kennt mich gut, hält mich niemals zum Narren.

Sie hatte mich noch in der Sonne gesehen

und spürte schon früh leisen Anflug von Krähen.

In blinder Angst nicht zu erfrieren, erstarren,

 

ist nur ihr Verdienst, vielleicht Glück, vielleicht Leiden.

Mit Würde und stolz dieses Los anzunehmen,

statt wütend die Welt zu verdammen, verfehmen

ist schwer, aber lohnend. Das Wissen zu scheiden

 

von Wunsch oder Ängsten, heißt nicht, sie zu fliehen.

Der Abstand der Trauer von allen Belangen,

sie auf eine andere Warte zu ziehen,

 

der Mut, sie zu sehn ohne Flucht, ohne Bangen,

macht noch nicht Vergessen, wohl aber Verziehen,

denn treu ist die Trauer und ohne Verlangen.

 

 

 

II.

 

Treu ist die Trauer und ohne Verlangen.

Ich traue ihr mehr als den andern Gefühlen.

Ich laß mich sanft von ihrem Atem umspülen

und mache mich freiwillig bei ihr gefangen.

 

Die Melancholie, ihre zarteste Seite,

geleitet mich, um wieder schwach sein zu dürfen,

zu meinen vergebenen Lebensentwürfen,

für die ich zu gern noch ein Stündchen bereite.

 

Ich schnür mir zur Nacht meine Traumtänzerschuhe.

Vergängliches in meine Zukunft zu retten,

ist, wenn auh nicht alles, was ich mit ihr tue,

 

doch schwindeln in zeitlosen Traumpirouetten.

Sie rührt mich so zart an und wiegt mich zur Ruhe,

als wollte sie mich in ein Nebelnest betten.

 

 

 

III.

 

Als wollte sie mich in ein Nebelnest betten,

legt sich meine Trauer warm an meine Seite,

als ich noch versuche, die lang verschneite

Erinnrung mit meinem Wunsch zu verketten.

 

Die Hälften, sie wollen noch nicht zueinander.

Es steht mir schon tief in der Stirn, unumwunden:

Ich habenoch nicht meine Formel gefunden.

Mein Weg wird ein Pfad, wird ein Feld ein Mäander;

 

mein Blautraum verliert merklich seine Konturen,

verweht wie der Blaunebel von Zigaretten.

Ein Luftkissen legt sich auf meine Blessuren,

 

ist Frieden und Trost mir in allen Facetten.

Die Trauer erlöst mich, verwischt die Zäsuren.

Wer sonst kann mir heute die Sorgenstirn glätten?

 

 

 

IV.

 

Wer sonst kann mir heute die Sorgenstirn glätten,

als Trauer, die alles verzeiht und bewahrt?

Wir sind doch von so sehr verschiedener Art;

wer weiß, was wir anderenfalls an uns hätten.

 

Ich steh vor dem Spiegel und mach mir den Lei frisch

und flechte mir ein Souvenier in die Haare.

Ich steh in der Tür und verfassen das Wahre;

ein niemals begonnener Brief auf dem Schreibtisch.

 

Ich stehe am Fenster, ein Regenguß prasselt

ans Glas. Ich hab wieder den Fehler begangen:

hab mit meinen rostigen Ängsten gerasselt.

 

Ich hab mich verlorn und versucht dich zu fangen;

kein andrer als ich hat’s mir wieder vermasselt.

Nur meine eigene Hand streicht die Wangen.

 

 

V.

 

Nur meine eigene Hand streicht die Wangen,

den Nacken, die Haare, die wie’n feuchtes Tier kraus.

So lang ist es her, damals hatte ich dir aus

der Tiefe des Auges den Funken gefangen;

 

ein Brandstifter in einer trockenen Seele,

nur hier, meine Traumschwindeleien zu mindern.

Die Trauer allein kann die Wundschmerzen lindern.

Mein Schicksal: Ein Los, daß ich immer verfehle.

 

Vom Tag noch so taub, alt und karg, was kein Schlag kann,

ist Alltag. Alleinsein ist schlimmer als Grippe.

Kein Garten mein Herz, nur verwildeter Hag dann.

 

Es wundert und wird wohl auch nicht wenn ich schnippe:

Es bricht nur noch früher ein weiterer Tag an.

Erinnerung brennt mir noch auf meiner Lippe.

 

 

 

VI.

 

Erinnerung brennt mir noch auf meiner Lippe;

Ich hol’ einen Wunsch aus dem Abseits ins Heute,

doch wie ich die Wunder und Zeuchen auch deute,

und Worte in andre Bedeutungen kippe:

 

Sie reichen nicht hin mein Gefühl zu erklären,

und wie unter Milchglasgewölben zu schlafen,

das lügt jeden Tagesverkündiger Strafen.

Ich kann weder Zukunft noch Gegenwart nähren,

 

wenn ich mich nur an meinen Tagtraum erinner

und doch wieder nur ein Phantomgefühl meinte.

Ein Traumtänzer bleibt halt ein einsamer Spinner.

 

Nein, nicht daß ich vor dir mein Wesen verneinte;

du siehst längst nicht nur den gebornen Gewinner,

doch sahst du mich nie in der Not, wenn ich weinte.

 

 

 

VII.

 

Doch sahst du mich nie in der Not, wenn ich weinte,

wie oft ich auch bete um Wahrheit und Frieden.

Wie Lemminge fallen heut nacht Leonieden,

als ob man die Sterne für immer verneinte.

 

Die Sternscherben fallen vom Himmel, verglühen

wie Wünsche, die zu nah am Licht einer Wahrheit.

Der Himmel bemüht sich vergebens um Klarheit,

und wie sich die Augen auch weiter bemühen:

 

Dein Aberkuß spricht zu mir in anderen Sinnen.

Ich war schon, so wahr ich es heute verneinte,l

dabei meinen ewigen Traum zu gewinnen,

 

als ich dich am Abend umarmte, umbeinte.

Du wolltest genießen, ich wollt’ was beginnen;

es wäscht sich schon fort, was uns gestern noch einte.

 

 

VIII.

 

Es wäscht sich schon fort, was uns gestern noch einte,

doch liegt noch viel Saat auf geheiligtem Boden

und nährt sich aufs Neue aus älteren Toden

und als ich dich näher, viel näher vermeinte,

 

und weiter den Horizont, weiter als Norden,

da hingen die Nächte voll glühender Schnuppen.

Berührn sich die Finger mit tanzenden Kuppen,

dann spürst du: Es ist noch nicht Alltag geworden.

 

Der Zauber in uns war doch niemals nur Zirkus.

Ich kenn und bekenne mich zu deiner Lippe.

Dein Abschiedswort fühlt sich noch an wie ein Stirnkuß.

 

Doch wenn ich das Wunder berühre, betippe,

hätt ich nie gedacht, daß ich’s jemals verliern muß.

Ich fühl wie im Schlaf die verlorene Rippe.

 

 

 

IX.

 

Ich fühl wieim Schlaf die verlorene Rippe.

Mein Wundwasser spühlt einen Tod in die Welt,

der den Schwur auf ein Leben danach nicht enthält.

Ich nehme mich zu gerne selbst auf die Schippe.

 

Das wärmende Licht meiner heilenden Sterne,

was ich mir erfand und vor andern verstecke,

der glühende Schein abends auf meiner Decke,

nur Licht einer flackernden Straßenlaterne.

 

Ich kenne die Falle im Fall eines Falles.

Die Liebe ist immer so frei wie befangen,

sie lebt aus sich selbst, braucht doch alles,

 

doch Liebe darf nie das geringste verlangen

und zielt in die Ferne, wie Spur eines Knalles.

Ein Teil von mir ist mit dir von mir gegangen.

 

 

 

X.

 

Ein Teil von mir ist mit dir von mir gegangen.

Mir fehlen zwei Hände noch zu meinen Händen.

Du fehlst mir an jeglichen Ecken und Enden.

Ich weiß kaum mehr, wie unsre zwei Atem klangen.

 

Ich möchte noch nicht mit den Lemmingen rennen,l

doch wenn ich noch vor der Vergangenheit ketze,

dann öffnen sich steil Meer und Klippen. Ich setze

mir Teewasser auf und ich laß es verbrennen.

 

Mir fehlen zwei Augen zu meinen, und strecken

sich Arme und Beine, und zwei Füße scharren

nach ihrer Entsprechung in jetzt leeren Decken.

 

Im Bann Ungetanem allein auszuharren,

ist wenig. Du fehlst mir an Enden und Ecken.

Ich seh, wie wir beide zu Masken erstarren.

 

 

 

XI.

 

Ich seh, wie wir beide zu Masken erstarren.

Es hat sich viel Herzblut vorm Hirn angestaut,

doch die seismischen aktivitäten der Haut

verraten uns mit Haut und Haren den Narren.

 

Ich frag welche Freiheit die Lage noch läßt,

und ich schiele verlegen zu dir grad nach drüben.

Ich muß immer noch für die B-Note üben.

Wir legten uns früh und zu gern mit uns fest,

 

doch haben wir Ziel oder Ende gesteckt?

Ich wollte nur in deine Nähe gelangen.

In hermetischer Syntax die Beichte versteckt,

 

hab ich perlenden Schweiß deiner Haut aufgefangen,

den herben Geschmack neuer Freiheit leleckt;

kein Anlaß, noch Grund dieses Spiel anzufangen.

 

 

 

XII.

 

Kein Anlaß noch Grund dieses Spiel anzufangen,

entschieden uns doch dazu aus freien Stücken,

verbiegen im Tanz unsern eigenen Rücken,

den Blick zu bewahren und/oder zu fangen.

 

Sich einer Belanglosigkeit wegen necken,

ist Maske und Vorwurf zu je gleichen Teilen.

Wir können uns leiden und leiden zuweilen

an dem was wir vor dem je andern verstecken.

 

Ich kenn mich, in jeglicher Geste zuwider,

ersticke den Schrei in gespannten Kandaren.

Verschämt, kokettiert, senktest du deine Lider,

 

um nicht zu entblößt in mein Auge zu starren.

Wie gern riß ich all diese Hemmungen nieder.

Mein Wunsch muß auch weiter der Fleischwerung harren.

 

 

 

XIII.

 

Mein Wunsch muß auch weiter der Fleischwerdung harren.

Ein Neuanfang wird mir nur schwerer gelingen,

versuch ich Verlornes nach Hause zu bringen,

was längst schon verflogen wie Dunst von Zigarren.

 

Vor Abbruch des Tages erscheint manches machbar:

Zerstreuung bei Fremden und seichtes Gelaber.

Ich feier und fürchte die Wirkungen, aber

am Ende des Tages ist noch so viel Nacht da.

 

Das Ringen, all das abermals auszumerzen,

worauf bereits all meine Tagträume drangen,

heißt klaren Verstands mit Dämonen zu scherzen.

 

Hab ich je geglaubt noch nach Haus zu gelangen?

Was bleibt ist nur die Hypothek auf dem Herzen,

doch treu ist die Trauer und ohne Verlangen.

 

 

 

XIV.

 

Treu ist die Trauer und ohne Verlangen ;

sie wird mir nicht heucheln, in Flitter hofieren,

und wird auch nicht falsch meinen Einsatz soufflieren.

Der Abend verloschen, die Gäste gegangen:

 

Ich trauer und spiele, wenn ich nur in meinen

Gedanken den Anflug von Zweifel erwähn,

bereits nicht einmal mehr noch allein souverän

meine Rolle als ein kleiner Stein unter Steinen.

 

Der Schnürboden hängt voll vergilbter Kulissen.

Ich werd, wenn auch nur noch die Dachbalken knarren,

an meinem Theater den Trauerflor hissen.

 

Die sternklare Nacht lugt im Dach durch die Sparren,

die Trauer bereitet mir ein kaltes Kissen.

Nur sie kennt mich gut, hält mich niemals zum Narren.

 

 

 

 

                                                               Aus „Zinnoberrauschen“

                                                               erschienen in der Edition Thaleia

 

 

 

Sonette