Dirk Schindelbeck

*1952                                                Aus „Die Veränderung der Sonettstruktur von der deutschen Lyrik der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart (1988)“

 

 

3.3. Die Dynamisierung in Formauffassung und Formgebrauch:

Rilke und die „dritte Phase“ in der deutschen Sonettgeschichte

 

Rilkes große Leistung ist es, die Prozesse im Sonett neu bewertet und ausgestaltet zu haben. Diese Entwicklung zeigt sich schon in den „Neuen Gedichten“, findet aber erst in den Orpheus-Sonetten ihren Höhepunkt. Insgesamt kann gesagt werden, daß die innere Struktur seiner Sonette ein dynamischeres und schmiegsameres Gewebe darstellt im Verhältnis zur Petrarka-Schlegelschen Normsonettistik. Das Sonett bleibt nicht mehr das engmaschige Entsprechungssystem, das es war; Rilke faßt die Form als biegsame Ganzheit auf, die zwar nicht strukturlos ist, aber auf eine vollständige Wiederherstellung der Formsignatur durch äußere Momente oft verzichtet. die Anbindung des einzelnen Gedichts an die Gattung wird schwieriger, weil im einzelnen Gedicht mehr Freiheiten realisiert werden, großräumigere Bewegungen werden möglich. Schon Wolfgang Müller versuchte zu beweisen, daß Rilke

„das Sonett nicht als starre Form übernahm, sondern ihm eine Elastizität gab, um kleinere Abwandlungen vorzunehmen, wenn das Gedicht sie erforderlich machte. (...) Jede Abwandlung hat eine bestimmte Sinnfunktion und sollte nicht als Ausdruck eines mangelnden Formwillens angesehen werden.“

 

Das gespannte Verhältnis zur Gattung hat indes seinen Reiz: Das Verhältnis von Ordnung und Freiheit wird lebendig und im Prozeß gehalten, die Form stellt nicht uneingeschränkte und unbedingte Ordnungsmacht dar, die diktatorisch Erfüllung verlangt: Es gibt ein Maß an Freiheit, das sein Recht im Formablauf behauptet und dem Sonett nicht unbedingt schadet, aber die Vorausberechenbarkeit des kybernetischen Ablaufs mindert. Viele dieser Sonette sind echte Ereignisse und Überraschungen in diesem Sinne, stellen ingeniöse Formaneignungen dar, die das Schemagedicht „Sonett“ überwinden, weil sie sowohl von der Ingeniosität des Autors Rilke geprägt sind als auch ein gewisses Eingehen und eine Nachgiebigkeit gegenüber dem zur Entfaltung anstehenden Sujet zeigen.

 

Rilkes lyrischer Stil seit dem „Stundenbuch“ wies bereits in eine Richtung, die in diametralem Gegensatz zu den Fügungen Stefan Georges, aber auch sonettierender Expressionisten wie Heym, Trakl oder Bold steht. Wolfgang Kayser, der eine Rhythmustypologie versucht hat, spricht hier vom „fließenden Rhythmus“ im Gegensatz zum „bauenden“ Georges.

 

Übermäßiger Gebrauch von Enjambements, Binnenreime und eine Versbehandlung, die den Vers eher periodisch gestaltet und öffnet als dauernd auf Schließmöglichkeiten gemäß dem Sonettraster bedacht zu sein charakterisieren Rilkes Auffassung vom Vers grundsätzlich. Vorausberechenbare Paarigkeit, kongruente Entsprechung von Versen wie sie in den festen Formen von Reimgedichten gewöhnlich sind, gibt es schon beim frühen Rilke nicht mehr; die Funktion der Reime als Schließqualitäten und Strukturmusterträger nimmt ab.

 

All das trägt natürlich nicht dazu bei, zum „architektonischen“ Sonettdichter zu werden. Dafür ist schon beim frühen Rilke der Schluß auch nicht-sonettischer Gedichte von besonderer Qualität: Er hält die sich wie von selbst fortbewegenden Verse an. Das Gedicht kulminiert im Schluß und nur in ihm: Die Tendenz zur im Schluß vollendeten Gesamtstruktur ist dominant. Wenn es selbständige Unterstrukturen gibt, so entsprechen sie meist nicht einem Strophen- oder gar Sonett-Raster, generell werden strukturgrenzen durch die stilistische Eigenart Rilkes geschwächt. Der Hang zur finalen struktur ist dem Rilkeschen Stil immanent, unbeschadet seiner Sonette. wolfgang Müller stellt für die „Neuen Gedichte“ eine exemplarische Pointenstruktur fest, die sich

 

„als ein übergreifendes Strukturmerkmal (...) in den Sonetten der Sammlung am reinsten ausprägt“

 

So ist es schon in den „Neuen Gedichten“ zu belegen, wie das Mönchsche Postulat der Zweiteiligkeit“ von Rilke nicht als formale Strukturgrenze beachtet wird, aber doch im inhaltlichen Sinne als eine Änderung des Tones, eine semantische Wendung zu greifen ist. Dies wird deutlich an der für Enjambements sensibelsten Stelle im sonettischen Ablauf, zwischen Vers 8 und 9. Eins der deutlichsten Beispiele gibt das Enjambement in

 

è Früher Apollo

 

Diese Verfahrenstechnik zeigt sich noch in einer Reihe anderer Gedichte wie „Gott im Mittelalter“, „Die Insel“, „Die Flamingos“, „Spätherbst in Venegig“. Trotz dieser Regelverstöße wird man aber nicht behaupten können, es handle sich um reine Ignoranz der Formstruktur. Eher scheint eine Umwertung vorzuliegen. Sie läßt sich so beschreiben, daß weniger eine rein formalistische Strukturgrenze vorliegt, eher ein anderer Ton, eine Tonbeugung oder –wandlung, eine neu aufziehende semantische Dimension, eine Bedeutungsintensivierung oder –erweiterung vorliegt. Besonders sinnfällig ist sie im

 

è Spätherbst in Venedig

 

Man könnte von Umsetzung der formalen Strukturforderungen in semantische Prozesse sprechen, einer tatsächlichen „Form des Inhalts“. In diesem Gedicht kommt der Gegensatz von „müde“ zu „waches Arsenal“ durch diese im Enjambement verwirklichte formale Sonettbedingung zum Ausdruck und stellt sich als ein Umschwung innerhalb des Gedichts dar. Dieser wird durch das Enjambement vielleicht besser geleistet als durch die die gewohnte Markierung des innersonettischen Vers/Reim-Schlusses im achten Vers. Mehr: Die innersonettische Bewegungsänderung wäre in der hergebrachten eng rasterigen Gefügestruktur wohl gar nicht möglich. Gerade der Tonwechsel, der sich nicht im gewohnten Vers/Reim-Schluß niederschlägt, sondern als Leistung des Stils wirksam wird, hat etwas überraschendes, weil noch in derselben Satzperiode stattfindend, trägt die Signatur von „Umschlag und Verwandlung“.

 

Die konjunktivische Form, die die lange bis zum Gedichtende reichende Satzperiode einleitet, steht noch in den Quartetten, die den entropen Zustand mit dem Bilde der Müdigkeit beschreiben. Doch je länger die Satzperiode dauert, je mehr scheint die Abhängigkeit der Verben vom sie bestimmenden Konjunktiv „als sollte“ zu schwinden. Der letzte Vers gar, der „den großen Wind hat, strahlend und fatal“, scheint in seiner Pracht und Mächtigkeit diese durchgängig bestehende Abhängigkeit vergessen machen zu wollen.

 

Der Umschwung des „Willens“, der im „sollte“ anfing, liest sich so, daß die Flotte den großen Wind „hat“. Die Arbeit, die das Sonett verrichtet hat, korreliert in der Tat mit der dargestellten Leistung jenes „Willens“. Die Spannung, die zwischen dem noch gänzlich passiven Zustand („Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder“) und dem Zustand „strahlend und fatal“ bestand, ist durch sonettische Arbeitsleistung überwunden. Judith Ryan meint,

"die Form des Sonetts (...) dient mit ihrer natürlichen Antithetik zur Veranschaulichung der Dialektik des Umschlagprozesses.“

Anders gesagt, ihre kybernetische Qualität leistet dies.

 

So sieht Egon Schwarz in der „Ausfahrt der Galeeren eine Verdichtung von Venedigs gesamter Geschichte“. Und die Sonettform ist es, die von der Ködersituation der touristischen Saison des Hier und Heute die wahre Dimension erschließt; insofern wird die Sonettform fast zum Instrument phänomenologischer Daseinserschließung für Rilke auf der Werkstufe des Dinggedichts.

 

Exemplarisch für die Formauffassung, Formgebrauch und Formleistung in den „Neuen Gedichten“ sei auch das Sonett „Römische Fontäne“ untersucht. Auch bietet sich hinsichtlich des Formgebrauchs bei Rilke an, es mit dem Brunnen-Sonett aus dem Orpheus-Zyklus zu vergleichen.

 

è Römische Fontäne (Borghese)

 

Das Gedicht bewegt sich von der äußeren und groben Beschreibung des Brunnens aufwärts zu dessen „intimeren“ Bereichen, die auf erfassende Darstellung des wesens zielen.

 

Es ist immer wieder aufgefallen, daß es noch nicht einmal ein vollständiger Satz ist, der hier die Sonettform ausfüllt. Dies läßt sich auf den nominalen Charakter der „Zwei Becken“ lesen; sie bilden den inhaltlichen Rahmen, der von der formalen Anlage „Sonett“ gestützt, ja getragen wird. Was geschieht, geschieht als Wasserbewegung zwischen den Becken, also innerhalb des vorgegebenen Kreislaufs. Eine Aussage, die grammatikalisch die Becken zum Vollsubjekt machte, brächte Prädikate und Objekte mit sich und würde die Konzentration auf das stille in sich agierende Spiel des Wassers im Beckenkreislauf stören. Man könnte sagen: Die Verlaufsform des Wassers wird von der grammatikalischen Verfassung gespiegelt.

 

Was wird thematisiert? „Form“ als Brunnenform, aber auch das Sonett als Anlageform, die zwar statisch und wie dinghaft vorgegeben ist, die jedoch zu besonderen Reizen entfaltet werden kann, wenn ihre „Übergänge“, also die Struktur (in diesem Falle: die Becken) –grenzen sich fließend überwinden lassen: Im Thema liegt eine Reflexion und Rückkopplung auf die formale Bedingung. Die Bewegung des Wassers erscheint als gleitende Reflexion innerhalb des Formrahmens; der einzige Vers, der in dieser Hinsicht „selbständig“ ist, ist der reimlose Vers 9:

 

„sich selber ruhig in der schönen Schale“

 

Und Wasser als solches ist ja in seiner immanenten Spiegelqualität per se das Element der Reflexion. So leistet das Sonett als formalpoetisches System Wesenserfassung jenes Gegenstandes, des römischen Brunnens, indem „Verlauf innerhalb eines Systems“ thematisiert wird mit allen Phänomenen der Zielführung („zum letzten Spiegel“), der Rückkopplung und Kreisführung im begrenzten Bild („Kreis aus Kreis“).

 

Das Phänomen des Gedichts aber als eines Sonettes ist, daß in ihm sozusagen eine neue Dramaturgie vorgeführt wird, die so im deutschen Sprachraum noch nicht existierte. Die Sonettform wird nicht mehr in ihrer (veräußert) dramatischen Struktur ausgeführt und begriffen als eine aus verschiedenen und metrisch und inhaltlich gleichermaßen getrennten Schichten zusammenzusetzende konstruktion; es wird das Gegenteil angestrebt und versucht, die „Übergänge“ so sanft und gleitend als möglich zu gestalten („leis sich neigend“; „entgegenschweigend“; träumerisch und tropfenweis sich niederlassend“; und als Krönung die Totalreflexion auf diese Formalauffassung in „von unten lächeln macht mit übergängen“), und dennoch die sonettische Vollfunktion zu behalten. Dies ist aber nur möglich, wenn der Gedichtschluß in seiner Funktion so sehr aufgewertet wird, daß von ihm die zentrale Steuerung und reflexive Struktur des ganzen Gedichts geleistet werden kann.

 

Insgesamt kann gesagt werden, daß das Sonett sich hervorragend eignet, die plastische Tendenz in den „Neuen Gedichten“ zu tragen, wo geistiges Sehen und Anverwandeln, Umsetzen von Gegenständen in Sprachstrukturen geleistet werden sollte. Hier kann die Formstruktur den Ding-Sujets eine Luzidität verleihen, die sie sonst nicht erreicht hätten, hätte Rilke auf das Sonett als Entfaltungs- und Darstellungsstruktur verzichtet. Das Sonett erweist sich als eine Form des Zeigens, sie arbeitet deiktisch den Themen zu, die in ihr reflektiert zur Erscheinung gebracht werden resp. sich ereignen.

 

Dies noch auf die Architektonik der Dinge bezogene Sonettieren scheint sich in den Orpheus-Sonetten mehr zu einer musikalischen Auffassung der Form weiter zu entwickeln. Zwar sind die grundsätzlichen inneren Formmomente wie die Umschläge (meist immer noch zwischen Vers 8 und 9, wenn auch nicht mehr formalistisch, sondern stets kybernetisch arbeitend) und die sinnverdichtende deiktische Erhöhung in der Schlußfigur gewährleistet, aber der sonettische Gedichtkörper wird von Rilke in den Orpheus-Sonetten noch biegsamer und subtiler verstanden; das sonettische System scheint oft wie von selbst zu arbeiten. Symptomatisch für diese Auffassung vom Sonettieren sind jene Verse, die sich mit der „Figur“ befassen und damit auch Wesensbeschreibung des neuen Sonettierens leisten.

 

„...jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt im Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.“

 

è Sonette an Orpheus 2.Teil XV

 

Johannes Pfeiffer konstatiert ein „aufgelockertes Sonett“ es

„zeigt an, daß es sich bei dem scheinbar strengen Gefüge lediglich um einen äußeren Rahmen handelt, der erfüllt ist von einer schmiegsamen gleitenden und strömenden Innenform.“

 

Wolfgang Kayser meint:

„Aber ebenso offenbar ist, daß dieses Gedicht wenig mehr mit einem Sonett zu tun hat (...). Die Sonettstruktur ist nicht die des Gedichts. (...) Vom Sonett ist außer den 14 Zeilen nur die Druckordnung geblieben, und die ist nur für das Auge da, entspricht aber in nichts der wahren Ordnung.“

 

Eine differenziertere und offenere Position nimmt Hartmut Kircher ein. Angesichts des Brunnen-Gedichts erkennt er „formüberwindende Formfollendung“, „adäquater Ausdruck des dargestellten Gegenstandes“ und kommt zu dem Schluß:

 

„daß bei keinem andern Dichter in solchem Maße wie bei Rilke die Frage zur Entscheidung drängt, ob man bei der Beurteilung von Sonetten dogmatisch auf die Einhaltung der Formgesetze beharren will oder ob man im schöpferisch-flexiblen Umgang mit ihnen einen künstlerischen Gewinn zu sehen vermag. Als bloße Vierzehnzeiler jedenfalls lassen sich Rilkes Gedichte (...) nicht aus der Sonett-Diskussion ausklammern.“

 

Genau darum geht es, um eine Definition der „strömenden Innenform“, der „formüberwindenden Formvollendung“. Im syllogistisch-kybernetischen Formverständnis zeigt sich hingegen der gewaltige Spannungsunterschied, den das Gedicht mit hohem Bewußtsein seiner prozessualen sonettischen Führung durchläuft: Die Entropiesituation in den Quartetten wird strukturell als ein „Dahinter“ aufgefaßt („weiter an“, „im Hintergrund“).

 

Umschlag leistet dann jene Stelle, wo das „Dahinter“ (das natürlich seinerseits den Wasserkreislauf notwendig erklärt und in seiner ganzen Dimension faßt) zu einem „Davor“ wird. So stehen die Quartette unter der Perspektive des „Zu-Tragens“ von „Sagen“, das Sagen selbst in seiner Qualität der mit sich selbst sprechenden Erde (als eines totalen Bezugs) im Bilde des Brunnen-Munds hat eine andere, ungleich höhere Stufe der Intensität und bleibt dennoch, angewiesen auf die (im wahrsten Sinne des Wortes) „Herleitung“ des nicht nur Sinn-, sondern sogar seinssetzenden „Sagens“.

 

Wesenhaft neu und als funktionales Glied des prozessualen sonettischen Gedichts unverzichtbar wird ja bezeichnenderweise in Vers 9 das „Gefäß davor“, das „Ohr“ eingeführt. Nun erst hat der Sender einen Empfänger, ist zwischen Mund und Ohr als den Organen, mit deren Hilfe das Selbstgespräch der Erde sich ereignen kann, eine dynamische Beziehung möglich, arbeitet das Gedicht seinerseits jetzt erst als vollständige (Inhalts-) methode im sonettischen Sinn, erreicht es das Objektive der Gattungsqualität.

 

So geschieht vor diesem „Hintergrund“ der Quartette in den Terzetten das eigwentliche und direkte Gespräch der Erde mit sich selbst. Dies ist total und (wie die „Gräber“ andeuteten) alle sonst getrennten Bereiche (wie Tod und Leben) umfassend, weil selber flüssig und qualitativ endlos. Das Sonett als Darstellungsform hat nun und bis hierher unternommen, diese Kontur zu zeichnen, anwesend zu machen, von ihm kann nicht mehr Leistung verlangt werden, es ist an sein Ende und auf seine Höhe gelangt und als Leistungsträger erschöpft.

 

Wie kann nun das begrenzte Gedicht „Sonett“ das qualitativ endlose Gespräch abbilden, wenn es strukturell ein Pol-Gedicht zwischen verschiedenen Spannungszuständen ist?

 

„...Schiebt ein Krug sich ein,

So scheint es ihr (der Erde), daß du (der Brunnen-Mund) sie unterbrichst.“

 

Das Gedicht muß enden, doch dies ist eine scheinbare Unterbrechung hinsichtlich des endlosen Selbstgesprächs, auf das es verweist, hinsichtlich seiner Eigenverfassung hat es erreicht, was es sollte: eine deiktische Qualität, indem es über sich selbst hinausweist. Wie der Brunnen-Mund als ein sinnlich anschaubares Phänomen eine begrenzte Öffnung hat, anhand der eine umfassendere Dimension erfahren werden kann, so ist auch die Sonettstruktur eine Sprachöffnung, in der das unendliche und totale Selbstgespräch des reinen Bezugs im Endlichen aufscheinen kann: Auch die Formstruktur selbst hat fast, wie der Brunnen-Mund, die Qualität eines Sinnbilds. Außerdem ist sie unverzichtbares Instrument Orpheus’, ist sie als Strukturgeber die Form des „reinen Bezugs“.

 

Dies bedeutet (im Gegensatz zum Borghese-Sonett) eine weitere Öffnung des sonettischen Systems. Lag der Akzent vorher darauf, den Gegenstand voll zu erfassen und antwortete das Sonett auf ihn mit seiner ihm eigenen begrenzten Plastizität, so versucht hier die Form das Unbegrenzte zu fassen und in seiner Struktur anwesend zu machen. Vieleicht meinte Rilke dies, als er schrieb:

 

„Ich sage immerzu Sonette. Ob es gleich das Freiste, sozusagen Abgewandetste wäre, was sich hinter dieser, sonst so stillen und stabilen Form begreifen ließe. Aber gerade dies: das Sonett abzuwandeln, es zu heben, ja gewissermaßen es im Laufen zu tragen, ohne es zu zerstören, war mir, in diesem Fall, eine eigentümliche Probe und Aufgabe.“

 

Das Sonett bleibt im Orpheus-Zyklus nicht allein die Erfassungsform der plastischen sinnlichen Anschauung („lange errang ers im Anschaun“), es macht die „Wendung“ mit und wird zu einer allgemeinen Form sinnlicher Wahrnehmung überhaupt.

 

è Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII

 

Da der Zyklus ja auch ganz andere Dinge als bloße Gedankenarchitekturen wiederholen und zur sosettischen Anwendung bringen will, sondern im Gegenteil andere verborgene Wahrnehmungen singend ins Sein rufen und damit ins Gedicht heben will, ist wie im obigen Beispiel eine Wahrnehmungslineatur des Geschmacks möglich:

 

„wo sonst Worte waren, fließen Funde“

 

Die Bewegungsfigur ist ansteigend bis hin zur fast stammelnden Emphase; sie korrespondiert mit dem Begriff der Früchte (Apfel), deren Wesen die Süße ist und die langsam erst geahnt, dann erschmeckt, erkannt und schließlich intensiv erlebt und als hierseiend gefaßt wird. Diese Bewegung von der Ferne zur Nähe, von der Ahnung zur Bewußtheit ist gleichzeitig eine Beschleunigungsbewegung. Das sein der Süße wird in der Sprache präsent, und diese Möglichkeit des Sich-Ereignens des Wesens der Süße ergibt eine identität zwischen Erkennendem und Erkanntem, wobei die Trennung, die das Bewußtsein schafft, aufgehoben ist im Geschmack.

 

Überhaupt ist die Parallelstruktur der genannten Fruchtreihe mit der Erfahrungsreihe im Kontaktereignis am Ende des Gedichts evident. Das Fassen, Erfassen und auch wohl Er-Innern der Früchte geht über die Vernichtung von deren Namen, ist Abkopplung vom gewöhnlichen Bezeichnungssystem von dem was man „Geschmack“ nennt (Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt / Wird euch langsam namenlos im Munde“) und geschieht in der positiv aufgefaßten Entfaltungsfigur „Sonett“.

 

Es ist die Auflösung und Überwindung der erstarrten Systeme, die uns die Welt vermitteln, alle Raster und „Fingerzeige“, die uns „die Welt zu eigen machen“ sollen und deren ersetzen durch das hymnische Hinreichen ins andere, ins neue Erfahren im singenden Setzen des Seins. Im ganzen Zyklus sind Auflösung und Neusetzung mitthematisiert. Vor dem Hintergrund der als schal und profan erfahrenen Wirklichkeit experementiert Rilke mit der hymnischen Figur, dem Abstoß aus der gewöhnlicherweise nur halb erfahrenen Wirklichkeit, wo positivistisch nur das „Sichtbare“ zählt.

 

è Sonette an Orpheus 2.Teil I

 

„...die Sonettform, hier so frei gehandhabt wie nirgends bisher, ist im Begriff zu zerfließen“.

 

Der ganze Orpheus-Zyklus ist ja auch immer eine Poetik im formalen Sinne schon deswegen, weil seine Verfassung sonettisch ist. Man wird unterstellen dürfen, daß diese Verfassung des Zyklus einen Stellenwert hat, der über Beliebigkeiten hinausgeht und daß die formale sonettische Aussage struktureller und wohl unverzichtbarer Bestandteil der Gesamtaussage darstellt. Ja, das Sonett als Gattungsform scheint hier, wiewohl in oft ungewohnter weise, doch Leistungen zu erbringen, die man von ihr so bislang nicht erwartet hat bzw. erwarten konnte. Das Sonett arbeitet affirmativ, entfaltet das Wesen des Themas. Nie ist die Form bei Rilke eine Zwangsform, immer eine mögliche Aneignungsform für Welt- und Wirklichkeit(en). Und er bemüht sich, es nicht nur mit seiner lyrischen Entwicklung mitwachsen zu lassen, sondern auch dem Thema sonettierend gerecht zu werden. immer faßt er die Form als Gewebe auf, als per se vollständige und autonome lyrische Methode. seine Sonette sind von ganzkeitlicher Formauffassung getragen, und ganzheitlich heißt, daß alle Teile und Momente des jeweiligen Sonetts auf seinen finalen Stellenwert zielen, bzw. von der finalen Struktur bewegt und angelegt und aus dem Gattungsbegriff erwachsen sind.

 

Die strukturelle Aufwertung der finalen Struktur geht bei Rilke (schon in den Ding-Gedichten) so weit, daß eigentlich nicht mehr von Pointe gesprochen werden kann; zu groß ist die gedichterzeugende Leistung der finalen Struktur.

 

Mit ihrer Aufwertung allerdings geht die Abwertung der Disposition, wie sie sich in (von normativen Poetiken vorgeschriebener) Zweiteiligkeit und sauberen Gliederungs- und Gedankenschritten darstellt, einher. Die Variationsmöglichkeiten innerhalb des Gedichts erhöhen sich dadurch (auch wenn sie im Sinne normativer Poetik dann Regelverstöße genannt werden), strukturelle Vielfalt und vor allem großräumigere, ganzheitlichere Themaentfaltung wird möglich, das engmaschige Steuerungssystem des Schlegelschen Sonetts wird schon in den „Neuen Gedichten“ abgelöst durch eine schmiegsamere, flexiblere Form, die ihre sonettische Gattungssubstanz verstärkt aus der finalen Struktur beziehen muß.

 

Es läßt sich eine Rechnung aufstellen, die Vor- und Nachteile der neuen sonettischen Formauffassung durch Rilke in Verhältnis zum gebräuchlichen Schlegel-Typus setzt.

Durch die großräumigere und finalorientierte Sonettstruktur steigt:

 

1.         das Quantum an Verwendungsmöglichkeiten der Form

2.         das Überraschungsmoment

3.         die Chance der Sonettform, zeitgemäß zu bleiben

4.         die Chance des einzelnen Gedichts, eine einmalige Ausprägung zu werden

 

sinkt:

 

1.         die Übersichtlichkeit und Gliederungsstärke

2.         die Gewohnheit und Vorausberechenbarkeit der Form

3.         die Bindung an die Gattungsnorm

 

Letzteres wird von normativen Sonett-Theoretikern immer nur als Bedrohung empfunden, aber gerade hierin liegt ein Reiz und eine Verjüngungsmöglichkeit, die die normative Sonettistik Schlegelscher Prägung nicht kannte: Das Spiel mit der Gattungsgrenze.

 

Was thematisiert Rilke in diesem Gedicht wie im ganzen Orpheus-Zyklus? Und wie wirkt dieses Thema zurück auf die formale Verfassung bzw. wie notwendig erweist sich sonettische Struktur, wie sie hier vorliegt, für die Entfaltung gerade dieses Themas? Was heißt sonettieren in diesem Zusammenhang?

 

Es sei die These gewagt, daß Sonettieren gerade hier von grundsätzlicherer Bedeutung ist als das im überwiegenden Teil der zeitgenössischen am Schlegel-Modell orientierten Normsonettistik der Fall ist.

 

Rilkes Orpheus-Zyklus ist auch eine Poetik des Sonetts, die sich im Formgebrauch manifestiert. Die Selbstreflexion, die in und durch die Form möglich ist, wird auf eine neue Stufe gestellt. Hier greift und strukturiert „Form“ nicht mehr ein außen liegendes Ding wie in den Neuen Gedichten, hier wird Form viel mehr der Inhalt selbst anvertraut, so daß sie sich immer wieder neu ereignet.

 

Was Rilke ja anstrebte im Orpheus-Zyklus war, ein dynamisches Verhältnis zwischen den Polen Leben und Tod darzustellen bzw. Überhaupt erst als möglich darstellen zu können. Dies leistet Orpheus als der Wandelnde in „Doppelbereich“, dies leistet aber auch sein Tun mit der Leier, dies leistet der orphische Gesang. All dies aber wird nicht nur im Sonett dargestellt, es ereignet sich in ihm. Die sich entfaltende Dynamik zwischen Tod und Leben braucht eine Darstellungsform, die genau dies nicht nur abzubilden, sondern sogar zu befördern weiß. Damit stellt sich auch die Selbstreflexion des sonettischen Systems auf eine neue Stufe.

 

„Bezug“ kann man das Schlüsselwort nennen. Bezug meint Innerlich-Doppelwertiges und wird doch geleistet und anwesend gemacht durch Formales. Das Sonett wird bei Rilke zur Darstellungs- je Verfassungsform von „Bezug“.

 

So könnte das Sonett in diesem Sinne verstanden werden als das Orpheussche Instrument, das sich „zur Leier biegt“, der Resonanzraum, der ermöglicht, das Unsichtbare im Hiersein singend anwesend zu machen. Das Sonett wird zur Gedichtform des „Doppelbereichs“ und des „reinen Bezugs“ vermöge seiner Kräftefelder und Ablauffiguren, die ihr Thema durch ir Stellenwertsystem beben, verwandeln und „lösen“ können, weil es die Umschlagstelle und die finale Phase hat. Ja man könnte das Sonett sogar physikalisch verstehen als kommunikationsröhre zwischen dem hiesigen und dem anderen Bereich, es leistet Ausgleich und Vermittlung.

 

Das Sonett kann somit luzid machen, was sonst nicht luzid ist, beweglich und dennoch fest sein und immer im „Doppelbereich“ bleiben Dafür steht auch ein Gedicht wie das obige:

Das unsichtbare Gedicht wird zum sichtbaren; das heißt, es ist latent da (und mit ihm die Substanz des Unsichtbaren). Orpheus ist immer da und mit ihm Sein, das im Gesang entsteht, Gesang, der Sein setzt: Ein Gedicht wie dieses bleibt aber nicht nur nennend davor, sondern ist selber der Prozeß, den es beschreibt, wird zu „Rundung und Blatt meiner Worte.“ Der andere Bereich ist hier das Meer der Luft in seiner qualitativen Unbegrenztheit. Verbunden mit diesem Meer ist das begrenzte Subjekt durch das Atmen als einer Aneignungs- und zugleich Erkenntnisform.

 

„Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir?“

 

Die Reflexion auf „Stellen“ erfolgt hier an bezeichnender Stelle im Stellenwertsystem „Sonett“. Das Gedicht befindet sich, strukturell gelesen, in der Rücklaufphase, im „Gegengewicht“ zu den Quartetten. Das Gedicht, bildlich gesprochen athmet aus. Die Stellen der „Räume“, die Luft“ hat nun die Signifikanz des Bezugs gewonnen, der Prozeß des Atmens ist in seiner Gänze erfaßt und gleicht der vollständigen Methode sonettischen Dichtens. Das Sonett als „objektive“ Form bringt also durchaus seine volle Leistung in dem Gedicht, ist dynamische Bezugsform und als Gattung bewahrt. So arbeitet es, so bringt es unverzichtbare Leistung ins Thema ein.

 

Das Sonett war für Rilke im Orpheus-Zyklus weniger Strukturmuster, sondern Energieträger. Rilke konnte so sehr sonettisch denken, daß er die Sonettform sozusagen frei arbeiten ließ und der ständigen Rückkontrolle und Oberaufsicht über das Gedichtschema nicht mehr bedurfte. „Bezug“ und „Lösung“ sind dem Orpheus-Thema immanent, und so war es auch die dynamisch aufgefaßte Sonettform.

 

August Stahl befindet denn auch:

„Rilke hat die Sonette an Orpheus stets als eine kleine fast ungewollte Arbeit, im Verhältnis zu den Duineser Elegien als eine Zugabe abgetan. (...) Die Einschätzung Rilkes gründet wohl in dem ganz und gar ungleichen energetischen Einsatz, dem jahrzehntelangen Ringwen um die Elegien und der fast mühelosen Niederschrift der Sonette innerhalb nur weniger Tage.“

 

Das Sonett als mittlerer Kosmos, in dem die Mikrostruktur des Epigramms, aber auch die Makrostruktur der Pindarschen Ode schlummern, wird von Rilke eindeutig makrostrukturell aufgefaßt und gebraucht; vor allem im Orpheus-Zyklus leistet die der Form immanente Bewegungsintensität die Überwindung der größten denkbaren Spannung, der zwischen Leben und Tod. Die Form, von Rilke schon immer positiv aufgefaßt, weitet sich zur hymnischen Form aus, wird zum Rückgrat des hymnischen Gesangs. („Rühmen, das ist’s.“

 

Mag auch die Gattung im Einzelgedicht zuweilen überfordert scheinen, so ist doch festzuhalten, daß hier exemplarisch ein Weg modernen Sonettierens vorgeführt wird, der ein gattungshistorisches Faktum darstellt. Von nun an können vom Sonett nicht nur Konstruktions-, sondern auch mutationsleistungen erbracht werden. Das Sonett ist ein dynamischer Prozessor geworden, der die ersehnte hohe Umsetz- und Verwandlungsleistung erbringen kann, weil in der Gattungssubstanz ein ungleich höheres Maß an nutzbarer Energie vorhanden ist als in allen anderen lyrischen Formen.

 

Es bleibt zu fragen, ob denn die Orpheus-Sonettistik eine Muster-Sonettistik für das 20.Jahrhundert sein kann. Was Rilkes Zyklus zeigt, ist der individuelle und einmalige Weg in jedem sonettischen Gedicht zum Sonett. Wenn man von Muster sprechen kann, so wäre es dies. Muster im Sinne eines immer wieder auf- und auszufüllenden Grundrisses aber in keinem Fall, dazu ist jedes Sonett immer zu sehr inhaltlich gedacht und ausgeformt, ist orphische Bedingung im Rilkeschen Sinne, Orpheus’ Instrument, wenn man so will.

 

Aber der Orpheus-Zyklus bietet ein neues Verständnis von Freiheit und Gesetz im Sonettieren an, das jeden nachfolgenden Autor ermuntert, nachzudenken über das Spannungsverhältnis und die Komponenten, denen er sich selbst und denen er sein Thema aussetzt, wenn er modern sonettieren will. Das Sonett als Schema-Gedicht ist jedenfalls in diesem Zyklus überwunden.